ANGEDACHT
Der Traummann
Geronimo ist ein Traummann. Doch nicht nur, weil er so gut aussieht. Nein, er schneidert Träume. Passgenau wie Maßanzüge. Und er ist gut in seinem Geschäft. Eben ein Traummann.
Wir befinden uns im Jahr 3024. Die Erde ist unbewohnbar und doch wohnen Menschen auf der Erde. Sie wohnen unterirdisch in klimatisierten Räumen. Nichts ist mehr so wie es früher mal war. Die Menschen haben alles, müssen aber nicht mehr arbeiten. Computer übernehmen alle Aufgaben. Aber die Menschen langweilen sich. Sie schaukeln in ihren Hängematten und warten, bis der Tag vorbeigeht. Lesen ist uncool. Der persönliche Computerassistent liest vor. Und so plätschern die Tage dahin, nur unterbrochen von Mahlzeiten aus dem 3D-Drucker. Und so kam Geronimo auf eine Idee.
„Wir müssen wieder leben“, sagte er. „Die Welt muss wieder bunt werden.“ Er träumte von einer besseren Welt. Einer Welt, in der es nicht zu heiß war, um draußen zu leben. Einer Welt, in der es sich lohnte zu leben. Er träumte, dass er frei war wie ein Adler und fliegen konnte. Er träumte, dass er hohe Berge erwanderte. Er träumte, dass er schwamm wie ein Fisch im Meer. Und Geronimo war in all seinen Träumen glücklich.
Seine Freunde fragten: „Geronimo, warum bist du so glücklich und wir nicht?“ Geronimo sprach über sein Glück, das er in den Träumen fand. „Wir wollen auch glücklich sein. Kannst du uns einen Traum anfertigen, den wir dann auch träumen können?“, fragten sie. Denn die Menschen hatten die Gabe der Phantasie verloren. Geronimo aber hatte ganz viel Phantasie, und so schneiderte er für seine Freunde passgenau Träume. Sie konnten wählen zwischen den Kategorien Glück, Natur, Sport und Herz.
„Traumfabrik“ nannte er sein Geschäft. Es war der Renner. Alle seine Träume lieferte er den Menschen und pflanzte sie in deren Köpfe ein. Mit seinem Computer konnte er sich nämlich in das Bewusstsein fremder Menschen einklinken. Sie träumten, dass sie die besten Tänzer und Sportler waren. Sie wanderten im Traum durch Täler und Berge, ohne müde zu werden. Sie genossen das beste Essen und waren die schlauesten und schönsten Menschen. Sie träumten davon, viel Geld zu verdienen und reich zu sein. Sie träumten, dass die Erde wieder bewohnbar war.
„Danke, Geronimo, danke für alles.“ Geronimo war glücklich. Gerade als er in seinem Haus am Meer frühstücken wollte, drang ein durchdringendes Geräusch an sein Ohr: „Pieppieppiep“. Sein Wecker klingelte und riss ihn jäh aus seinem Traum. Die Welt hatte ihn wieder. Man schrieb auch nicht das Jahr 3024, sondern das Jahr 2024. Es war Winter, die Tage waren grau und nass, und die Menschen verharrten in einer Melancholie. Auf dem Weg zur Arbeit sann Geronimo darüber nach, dass seine Traumwelt doch wesentlich besser war als seine reale Welt. „Schade“, dachte er. Da hörte er seinen Namen. „Geronimo!“, rief jemand. Er drehte sich um. Vor ihm stand seine Nachbarin. „Danke, vielen Dank für deinen Traum. Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, du hast mir einen solch schönen Traum beschert. Genau den, den ich bei dir bestellt habe“, sagte sie und schickte ihm ein Herz. Er kniff sich in den Arm, es war wahr, er hatte nicht geträumt. Er hatte tatsächlich Menschen Träume geschenkt. Jetzt waren sie glücklich. Klar, er hatte es schon immer gewusst. Er war eben ein echter Traummann.
Barbara Wehlen-Leibrock
28.11.2024